LESUNG
13. Dezember 2021 - 20 00 Uhr
Amerlinghaus, Kulturzentrum 1070 Wien, Stiftgasse 8
"Dann ziehe ich eben aus", Roman von Christine Werner Verlag Bibliothek der Provinz
innerhalb der Veranstaltung "Wilde Worte" von und mit Richard Weihs.
12/19 cm, 364 Seiten, Hardcover, 28
ISBN 978-3-99028-868-9
Lisa hat bereits vor Jahrzehnten mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrem leiblichen Vater den Kontakt abgebrochen. Auf einmal meldet sich eine längst vergessene Tante, um aus Sensationslust die Todesnachricht von Lisas Mutter zu überbringen. Die Tante spielt die ahnungslose, liebe Verwandte, die sich bloß nirgends eingemischt hat und daher nichts von Lisas schwieriger Kindheit, geschweige denn vom Missbrauch durch den Stiefvater weiß. Tatsächlich aber war sie bis zuletzt die Vertraute der Mutter.
Lisa wird wieder von Erinnerungen heimgesucht: Heiteres, Komisches, Tragisches. Etwa dass Lisas Stiefvater sich wie Mutters Stiefvater benahm, wenn er nachts ins Zimmer kam. Ein weiter Bogen über die gesamte Kindheit.
Und später: Sex mit einem Fremden, als Lisa von zu Hause ausreißt, um ihren leiblichen Vater zu suchen.
Als Erwachsene: Nachforschungen über Großvaters Verbleib und was sich rekonstruieren ließ: Das Lagerleben, der interne Widerstand, das Leben mit sadistischen SS-Leuten und jenen mit zeitweise menschlichem Antlitz, die überlieferte Kindheit der Mutter als „Halbjüdin“, die Erzählungen von Großmutter, die in der Not einen arischen Bäckermeister heiratete und an ihm zerbrach.
Der Versuch, durch das Aufrollen der Großvatergeschichte die eigenen Erinnerungen zu übertönen. Schließlich betreten ProtagonistInnen aus Lisas Kindheit die Träume, um ein surreales Theaterstück aufzuführen. Als bemühten sie sich, endlich wieder verblassen zu können. Als müssten die Einzelteile der Vergangenheit erst in der gesamten Wucht aufeinander treffen, um sich wieder auf ein erträgliches Maß zu verkleinern. Da sie lebenslänglich Wohnrecht im Kopf haben.
Die Schrecken des Holocaust wirken auf 3 Generationen Frauen und auf deren Männer nach. Wehrlosigkeit von Mädchen gegenüber männlicher Gewalt dominiert das Leben der Frauen. Sie kämpfen mit der Unfähigkeit, die eigenen Töchter vor einer ähnlichen Geschichte zu bewahren. Es wird abwechselnd aus verschiedenen Perspektiven und verschiedenen Perioden erzählt.
Am Leid der anderen lässt sich was verdienen. Man kaufe in abgelegenen Gegenden alles zusammen, was irgendwie zur Unterbringung von Flüchtlingen taugt und richtet es gerade so her, dass die Behörde Genehmigungen erteilt. Aber interessant, was bei näherem Hinsehen alles im Argen liegt.
Da steht etwa eine Waschmaschine mit defektem Abwasserschlauch im Vorraum, rinnt Laugenwasser eine Treppe entlang und bei der Ausgangstüre hinaus - monatelang. Ich höre, dass man es ohnehin bereits gemeldet habe, bloß kümmere sich die Leitung nicht darum. Hätten die Flüchtlinge Werkzeug oder könnten sie sich einen neuen Schlauch kaufen, wäre das Problem längst gelöst. So aber geschieht nichts.
Das Camp, bestehend aus mehreren kleinen Gebäuden, ehemalige Ställen oder Geschäften liegt einige hundert Meter hoch und mitten in den Bergen, wo es locker bis Ende Mai Schnee geben kann und es abends meist empfindlich kalt ist. Doch kaum wird es tagsüber warm, wird abends schon nicht mehr geheizt. Prompt werden beinahe alle Bewohner_innen krank.
Da wird etwa von einer mehrköpfigen Familie ein ehemaliges Geschäftslokal bewohnt. Durch die Auslagenscheibe zieht es und die ganze Nacht plärrt der Lichtstrahl einer Straßenlaterne ins Zimmer. Hier wurde nichts isoliert, nur ausgeweißt. Hauptsache, es prangen Verbotsschilder an den Wänden: Rauchen verboten, Alkohol verboten usw. Als würde sich ein erwachsener Mensch, der rauchen oder was trinken will, daran hindern lassen. Zudem ist ja bekannt, dass die vorwiegend muslimischen Bewohner_innen Tee trinken. Ganz im Gegensatz zu unseren Einheimischen. Tagsüber sitzt man also in der Auslage und nachts binden sich die Bewohner Tücher um die Augen, weil sie vom grellen Laternenlicht geblendet werden. Warum die Campleitung nicht wenigstens eine Rollo anbringe oder den durchsichtigen Seitenvorhang durch einen lichtundurchlässigen ersetze, frage ich. Weil es technisch nicht möglich sei, behauptet man. Also bringe ich ein Maßband und bestelle zwei überbreite, passende Rollos, die ich aus eigener Tasche bezahle. Mit Hilfe meiner Patenfamilie und einer gnädiger Weise zur Verfügung gestellten Camp-Leiter sowie meiner privaten Bohrmaschine und sonstigem Werkzeug montieren wir die Ungeheuer. Ohne Probleme.
Flüchtlingsunterkünfte sind nicht gratis zu haben. Wer Quartier zur Verfügung stellt, soll auch entlohnt werden. Allerdings ist es enervierend mitansehen zu müssen, wie auf Kosten der Ärmsten Gewinn aus Flüchtlingsunterkünften maximiert wird, indem möglichst wenig Auflagen erfüllt werden.
Eines ist gewiss: Sobald meine Patenfamilie hier auszieht, werde ich der Campleitung diverse Rechnungen vorlegen. Ob ich mein gesammeltes Dokumaterial danach auch noch journalistisch verarbeite, wird wohl vom in mir aufgestauten Zorn abhängen.
der die mann erhielt 2016 beim Berliner Theatertreffen den 3Sat-Preis für die Regie von Herbert Fritsch, dem ehemaligen Castorf-Extremschauspieler und dadaistischen Künstler. Die geniale Inszenierung, ein Gastspiel der Volksbühne am Rosa-Luxenburg-Platz, gastiert zum Glück jetzt auch im Wiener Burgtheater. So soll Theater sein: Seelennahrung, witzig und in jeder Weise brillant.
Sieben Darsteller_innen in grellen Gummianzügen und diversen anderen skurilen Uniformen bewegen sich im Rythmus von Ingo Günther und seiner Band dasderdiemannorchester - bestens eingebettet in Konrad Bayers Sprachkunst.
Fritschs Choreografie der Groteske ist ein Erlebnis der besonderen Art. Schade, dass mein Abschluss-Bühnenfoto unterbelichtet ist.
https://www.google.at/search?q=der+die+mann+burgtheater&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwj0nPWPudPTAhVIbVAKHe9qAsIQ_AUIBigB&biw=1920&bih=916#imgrc=-M54iE5C6comzM:
Anfangs hatte ich nur ein Patenkind, dann drei Patenkinder und schließlich sieben. Es war mir bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Aber welches Kind hätte ich "verstoßen" können? Hinzu kamen ein recht junger, wenngleich bereits volljähriger Bruder, den ich unbedingt betreuen wollte, ein unglücklicher Vater, dessen Ehefrau und Mutter seiner Buben während der Flucht verschwunden war, ein zwischen Kind und Erwachsenen hin- und hergerissener Jugendlicher, der die Pflichtschule beendet hatte und jetzt, mit seinen 16 Jahren nichts mehr zu tun hatte. Die ganze Woche über in Wien war ich damit beschäftigt, mir Sorgen zu machen und überlegte, was ich am Wochenende in die Flüchtlingsunterkünfte bringen sollte. Mein zweiter Wohnsitz, den ich oft wochenends besuche, liegt nur einige Kilometer entfernt.
Die Kinder, Väter und jungen Erwachsenen habe eines gemeinsam: 1. sie kommen aus Afghanistan und dem Grenzland zu Iran. 2. es fehlen Mütter und Ehefrauen.
Die Männer sind entweder Witwer und die Buben Waisen oder man weiß nicht, wohin die Schlepper die Frauen gebracht haben, weil sie während der Flucht getrennt worden sind. Das Leid dieser Menschen ist kaum erträglich.
Heute, nach mehreren Umsiedlungen sowie positiven Asylbescheiden bin ich Patenmutter von "nur mehr" zwei Familien: einem Vater mit Sohn und Neffen und einem sehr jungen Erwachsenen mit kleinem Bruder, also von insgesamt 5 Personen. Diese beiden Familien haben eine sehr enge, freundschaftliche Beziehung zueinander und zwei der Jungs besuchen gemeinsam die selbe Klasse in der örtlichen Mittelschule. Natürlich sprechen die Kinder fantastisch Deutsch, wogegen die Erwachsenen nach Jahren ihres Aufenthalts in Österreich noch immer auf Deutschkurs und Asylbescheid warten. Also gebe ich Vater und Bruder, beides Analphabeten, jedes Wochenende Alphabetisierungs- und Deutschunterricht. Inzwischen beherrschen sie das Alphabet und können auch schon halbwegs gut lesen. Sie haben unendliche Freude am Lernen und ich wundere mich, dass wir ohne Mutterspracheunterricht so gut vorwärtskommen. Am Wochenende feiern wir den Geburtstag eines Erwachsenen und ich werde eine Riesentorte für alle backen.
Inzwischen helfen auch noch ansässige Fußballtrainer, die Jungs mit dem Privatauto zum Training zu fahren, wenn gerade kein Bus fährt, bringen mir Wiener Freunde und Freundinnen Geschenke für die Kinder und am Wochenende fahre ich jetzt jedes Mal mit einer Tasche voll herrlicher Dinge zu meinen Familien. Fortsetzung folgt.
Im April 2000 veranstaltete ich die Kunstaktion "Grenzen-Los" zwischen Gmünd und České Velenice. Als Fortsetzung zu meinem Roman "Wien ist nicht Chicago", dessen ProtagonistInnen bis 1938 in Gmünd lebten. Diese Grenzregion hat einiges hinter sich. Todesstreifen, Eiserner Vorhang, geteilter Bahnhof... Die Aufhebung der damals noch streng bewachten Grenze und die Aufweichung der Grenzen in den Köpfen jener, die die Vergangenheit ruhen lassen wollen, kostete mich ein Jahr Verhandlungsarbeit und gute Nerven. Schließlich war es möglich, einen Tag lang ohne Reisepass die Grenze zu überschreiten, besser gesagt zu "überfahren". Mit einer 90 Jahre alten tschechischen Dampflok und zweisprachigen Textlesungen.
Viel hat sich seither geändert, die Grenzen wurden geöffnet. Aber es ändert sich wieder was.
16 Jahre später veranstalte ich also wieder eine grenzüberschreitende Aktion, auch wenn mir inzwischen x-mal der Titel "gestohlen" worden ist: "Grenzen-Los Teil 2"
Es sei eine unglaubliche Frechheit, dass de Auslända nix zoin miassn in der Apotheke, sagt eine Nachbarin in der Steiermark. Das will ich genauer wissen. Doch nichts Genaues weiß die Nachbarin. Sie weiß nur, dass de Auslända nix zoin und mia, de Östarreicha oba scho. Irgendwer habe das erzählt und sie, die Nachbarin, habe es auch schon erlebt. Wann und wo, frage ich. Na, als SIE in der Apotheke die Medikamentengebühr bezahlen musste und eine Ausländerin mit Kind nicht. Eine Asylwerberin? Anerkannte Flüchtlinge in Bundesbetreuung?, frage ich. Die Nachbarin hat keine Ahnung, ahnt aber Ungerechtigkeit. Ihr helfe nie jemand. Obwohl sie chronisch erkrankt sei und eine Menge Geld für Medikamente zahle. Sie betont, dass sie sich nie irgendwas Großes habe leisten können. Zwar leben sie und ihr Ehemann in einem schmucken Häuschen, beide sozialversichert und in der Garage ein Mercedes, aber SIE sei immer benachteiligt gewesen. Ob sie jenen, die Heimat und Hab und Gut verloren haben, also den Ärmsten der Armen keine Medikamente geben würde, frage ich. Und warum, egal wer, etwa Flüchtlinge, vom Gesundheitswesen ausgeschlossen werden sollten. Die Nachbarin will aber lieber erzählen, wie schlecht es ihr immer ergangen sei. Zuerst die Mutter gepflegt, dann den Schwiegervater, keinen Beruf lernen dürfen. Immer nur Hilfsarbeiten gemacht, zum Beispiel beim Bauern Wiesen gemäht. Mit der Hand. Oder geputzt. Jetzt habe sie keine eigene Pension, weil sie nirgends angemeldet war. Nie habe sie was gehabt vom Leben. Und jetzt sei sie krank und in der Apotheke müsse sie Rezeptgebühr für die Medikamente zahlen, während die Auslända...
Mit der Pension des Ehemanns lässt es sich auskommen, lässt sich das Häuschen und das Auto erhalten, sogar großen Blumenschmuck leistet man sich jedes Jahr. Seit ein paar Jahren erhält die Nachbarin Pflegegeld - das möge aber, bitte, nicht weitererzählt werden. Wegen der Neider. Dass beide von ihren Eltern Hausanteile und die Frau das gesamte Vermögen der verstorbenen Schwester geerbt hatte, kann die schreiende Ungerechtigkeit in Bezug auf de Auslända überhaupt nicht mildern. Aber darum gehe es wirklich nicht. Worum geht es dann?
Ich würde es gerne verstehen.
Es ist mehr als 10 Jahre her, als ich mit einer Grazer Künstlergruppe eine "Bürgerwehr-Straßentheater-Aktion" unter dem Motto "Bewacht die Bewacher" machte. Damals nahmen wir jene Möchtgernsheriffs aufs Korn, die im Grazer Stadtpark Bettler und Punks verjagen wollten. Dass eines Tages sogar unsere Innenministerin von Hilfssheriffs zu schwärmen beginnen könnte, hätten wir aber nie geglaubt. Nie.
http://www.pbase.com/helene/graz2